Louisiana Literaturfestival 2024: Viel erwartet und fast nicht enttäuscht (2024)

Zum 13. Mal fand das Louisiana Literaturfestival statt. Zweimal habe ich in den Jahren davor behauptet, ein Besuch hier sei besser als ein Spa-Aufenthalt. Auch diesmal im Jahr 2024? Zum 7. Mal habe ich die Freude, darüber im literaturcafe.de zu berichten, was diesmal mit gemischten Gefühlen geschieht.
Von Barbara Fellgiebel

Warum? Weil mich zunächst viel enttäuscht. Ich, die immer predigt »Hab keine Erwartungen, dann kannst du nicht enttäuscht werden«, ertappe mich dabei, offenbar ganz große Erwartungen gehabt zu haben, sonst wäre es ja nicht zu dieser Kette von Enttäuschungen gekommen. Das beginnt mit dem Wetter: Das sonnige Festival, das bisher fast immer in strahlendem Sonnenschein stattgefunden hat, erlebt starken Wind und viele Regengüsse.

Und geht weiter mit der AutorInnenliste, die für mich in diesem Jahr nicht so spektakulär ist wie sonst immer. Viele der anwesenden AutorInnen sind Wiederholungstäter, will sagen, sie hatten schon mehrfach das Vergnügen, auf den Louisiana-Bühnen auftreten zu dürfen. Ich konzentriere mich auf die mir unbekannten Neuzugänge und – werde enttäuscht, weil ich keinen ALFA-Effekt erlebe, kein »Wow, von dem/der möchte ich mehr hören oder lesen«.

Die Synergie von Moderator/in und Autor/in lässt zu wünschen übrig, fast in jedem Gespräch werden zwei bis drei Fragen gleichzeitig gestellt, sodass der/die überforderte Autor/in schließlich auf »Wie war die Frage noch?« zurückgreift. Weird. Seltsam.

Meine Absicht, mit meinen Louisiana-Berichten war bisher immer, bei den literaturcafe.de-Besuchern das Gefühl zu erzeugen: »Oh wie schade, dass ich da nicht war, da muss ich unbedingt hin!« Das will mir in diesem Jahr nicht richtig gelingen. Eher: »Wie gut, dass du dieses Jahr nicht da warst«.

DasLouisiana Literaturfestival findet immer am vorletzten Wochenende im August statt und bietet Besuchern von Nordeuropas spektakulärstem Museum der Modernen Künste von Donnerstag bis Sonntag ein Feuerwerk interessanter Autorinnen und Autoren: 44 Schreibende sind auch in diesem Jahr eingeladen und zwar aus Kanada, Rumänien, Österreich, Norwegen, Irland, England, Schweden, Finnland, USA, Palästina, Schweiz und Pakistan sowie 28 Dänen. Auch in diesem Jahr ist niemand aus der Ukraine und niemand aus Deutschland dabei.

Ich habe diesmal eine 50-jährige IT-Expertin an meiner Seite, die noch nie in Louisiana war. Für sie ist diese Literaturszene Neuland. Das verhilft mir zu einer Yin-und-Yang-Betrachtungsweise des gesamten Festivals.

Freitag, 23. August 2024

Wir sind gewappnet, mit Friesennerz und Schirmen bewaffnet und warten geduldig auf Einlass. Eine weniger geduldige Dame stürmt an mir vorbei und rüttelt am verschlossenen Presseeingang. Auch ihr wird nicht geöffnet. Auch sie muss sich gedulden. Obwohl es sich um die Autorin Ulrikka S. Gernes handelt, eine der 28 geladenen dänischen Autorinnen. Wie schade, dass sie mir bis dahin noch völlig unbekannt war, sonst hätte ich diese wertvollen Minuten gern zu einem spontanen Gespräch mit ihr genutzt.

»Schau mal diese tolle Frau!«, sagt meine Begleiterin plötzlich. Ich drehe mich um und traue meinen Augen nicht: Da kommt sie, die Ikone, die zum Highlight des ganzen Festivals wird: Suzanne Brøgger – die Simone de Beauvoir Dänemarks. Optisch ein hinkender Vergleich.

Suzanne Brøgger ist seit den 70er-Jahren ein fester Bestandteil der dänischen Literaturszene. Seit 50 Jahren veröffentlicht sie autobiografische Romane und Essays, die mit bestechender Wortwahl und Prägnanz Erotik und weibliche Sexualität schildern, Frauen ermutigen, befreien, inspirieren, bestärken.

Diese beiden Autorinnen bestreiten den ersten Programmpunkt des heutigen Freitags auf die Louisiana-erprobte typische Art: Die eine stellt das neueste Buch der anderen vor. Dabei sitzt ein oder eine Moderator/in – in diesem Fall Bodil Skovgaard Nielsen – bereit, das Gespräch zu lenken. Ein mutiges Konzept, das mal mehr, mal weniger glückt. In diesem Fall sehr geglückt, denn Suzanne und Ulrikka wertschätzen sich gegenseitig, sind sich sympathisch und machen neugierig auf beide Bücher, die beide das Lolita-Motiv des Literaric*ms zum Thema haben, jedoch aus der Perspektive der 14-jährigen Kindfrau. »Junge Mädchen sind das Attraktivste!«, bringt es Suzanne Brøgger auf den Punkt.

Meine schwedisch/russische Begleiterin ist des Dänischen eigentlich nicht mächtig, hat aber etwa 80 Prozent des beeindruckenden Gesprächs verstanden und stürzt zu Suzanne Brøgger. Kurz darauf kehrt sie freudestrahlend mit einem Autogramm zurück. Ich kann sie gerade noch davon abhalten, das neue Buch auf Dänisch zu kaufen.

Unser nächster Programmpunkt ist die amerikanische Kurzgeschichten-Spezialistin Lorrie Moore die von Synne Rifbjerg interviewt wird. Ein Gespräch, das peinlich daneben geht. Die erfahrene, sonst so brillante Interviewerin wird völlig aus der Bahn geworfen, als ihr klar wird, dass das von ihr vorgestellte ziegelsteindicke Buch der Autorin nicht wie behauptet 2020 erschienen ist, sondern bereits 2008. Es enthält also nicht wie angekündigt das Gesamtwerk bis 2020. Lorrie trägt es mit Fassung und lakonischen Kommentaren, die Synne missversteht. Synne sagt naughty, Lorrie versteht nutty, Lorrie sagt courting, Synne versteht hunting. Synne sagt Nordic, Lorrie versteht naughty. Die sich daraus ergebenden falschen Assoziationen führen teilweise zum Eingreifen von helfen wollendem Publikum. Gelinde gesagt: Lost in translation.

Das ist auch bei anderen Gesprächen das große Dilemma: Der eine versteht das Englisch des anderen nicht bzw. nicht gut genug, um richtig auf die vielen Sprachnuancen und humoristischen Anspielungen eingehen zu können.

Also begeben wir uns zu Peter Waterhouse, einem mir bis dato unbekannten österreichischen Poeten. Peter Waterhouse leitet in Wien das von ihm gegründete Versatorium. Seine Texte Gedichte zu nennen, widerstrebt mir. Es sind Befindlichkeiten, die in repetitiven Einfachsätzen monoton ausgedrückt werden, und das Publikum reihenweise in kurze Power-Naps versetzen. Als die beiden endlich beginnen, miteinander zu reden, wacht das Publikum auf. Peter sagt Sätze wie Poesie schreibt im Imperfekt, um den Anfang zu finden und ergeht sich in Erklärungen, dass Imperfekt auf Deutsch Vergangenheit bedeutet, auf Englisch nicht perfekt. Als er mit an Naivität grenzender Offenheit erzählt, dass sein Versatorium so gut gesponsert wird, dass nicht nur er davon leben kann, sondern eine ganze Gruppe von Übersetzern mit Sprachspielen experimentieren darf, ohne etwas produzieren zu müssen, frage ich mich, welche Seilschaften nach wie vor manchen weißen Männern zur Verfügung stehen, während andere, sehr gute Poeten – und vor allem Poetinnen – um die Existenz kämpfen müssen.

Weiter zu Kim de l’Horizon dem nonbinären Deutsch-Schweizer, der/die vor zwei Jahren in Frankfurt den Deutschen Buchpreis für das innovative »Blutbuch« gewonnen hat.

Nachdem Kim inzwischen aus dem »Blutbuch« auch ein Bühnenstück gemacht hat und erfolgreich damit auftritt, habe ich mal wieder viel zu hohe Performance-Erwartungen. Er hat es aber auch extrem schwer sich, gegen, nein neben Danez Smith zu behaupten, der selbstsicher in seiner Muttersprache spricht und rapt und das junge Publikum im Sturm erobert. Jung, schwarz, queer, non-binär und HIV-positiv präsentiert er/sie sich und hat soeben das vierte Buch zum Thema veröffentlicht. Titel: Bluff

Doch die Interaktion der beiden ist perfekt, der super gut vorbereitete Felix Thorsen Katzenelson kommt kaum dazu, mal eine seiner intelligenten Fragen einzuwerfen. Die Mienen der verwirrten 70+ Louisiana-»Normal«besucher/innen sprechen Bände.

Kurz vor der Performance von Anne Carson gelingt mir ein Gespräch mit dem Louisiana Pressechef Jan Hybertz Gøricke, der – obwohl super gestresst – total entspannt Beobachtungen mit mir austauscht. Ich erfahre, dass erstmalig nicht nur internationale Autor/innen eingeladen wurden, die auf Dänisch übersetzt sind, sondern auch Autor/innen, die erfahrungsgemäß vom jungen dänischen Lesepublikum in der Originalsprache (also Englisch) gelesen werden. Man hofft und appelliert an dänische Verlage, diese Autor/innen auf Dänisch herauszugeben.

Samstag, 24. August 2024

Diesmal leiste ich mir den Luxus, zwei Tage zu bleiben. Hätte ich mir ersparen können. Tröstlich: Das Wetter ist zu Louisiana-Normal zurück gekehrt und verwöhnt uns mit strahlendem Sonnenschein. Heute ist der von Jan Hybertz empfohlene norwegische Shootingstar Oliver Lovrenski angesagt: mit nur 19 Jahren hat er den Preis der norwegischen Buchhändler für seinen Debutroman »Als wir jünger waren« erhalten. Der in Kroatien geborene, in Oslos Brennpunktvorort aufgewachsene Norweger erinnert in seiner kometenhaften Karriere ein wenig an Saša Stanišić.

Doch zuvor sehen wir uns die aktuelle Sonderausstellung Roni Horns an. Weird weird weird – höchst seltsam. Meine IT-Expertin entscheidet schnell und pragmatisch: Nichts für mich. Für mich auch nicht.

Seinen autobiografischen Debutroman hat Oliver Lovrenski in Straßenslang (Kebabnorwegisch) geschrieben, ein Novum in der norwegischen Literatur. Es fällt schwer zu glauben, dass dieser so proper daherkommende, angepasste junge Mann mit 13 tief im kriminellen Vorortmilieu Oslos verwurzelt war. Seine Hoffnung: als Vorbild für viele seinesgleichen zu wirken.

Nach einer Stunde Dänisch und Norwegisch brummt mir der Kopf. Wir stärken uns beim Picknick im grandiosen Park dieses einzigartigen Museums und tanken Natur ehe es im Gertschsaal weitergeht– so genannt nach der derzeitigen so überwältigenden Ausstellung des Schweizer Künstlers Franz Gertsch. Während man den literarischen Gesprächen lauscht, kann man die überlebensgroßen, wie Fotos aussehenden Kunstwerke eingehend studieren. Eine gelungene Kombination.

Weiter geht’s mit Joanna Rubin Dranger, einer schwedischen Autorin die vom deutschen Marc-Christoph Wagner interviewt wird. Er spricht Dänisch, sie Schwedisch – welch Wohltat. Joanna ist Graphic-Novel-Autorin und hat im vergangenen Jahr den Literaturpreis des Nordischen Rats für ihr Buch Ihågkom oss till livet (Erinnere uns zum Leben) erhalten. So ungewöhnlich, so aktuell, so interessant. Marc-Chistoph führt uns visuell durch einen Teil des 400 Seiten starken Buches, während Joanna dazu erzählt, wie sie durch die Beschäftigung mit ihrer eigenen Vergangenheit sehr spät im Leben entdeckt hat, dass sie direkt vom Holocaust betroffen ist. Nicht nur in den Täterfamilien herrschte Schweigen. Auch bei den Opfern wurde nicht über die erlebten Gräueltaten gesprochen. Sehr stark, sehr berührend.

Das Gespräch zwischen der englischen Autorin Rachel Cusk und Eleanor Wachtel hätte ich zu gern gehört – nur fand es leider zeitgleich mit Joannas Auftritt statt.

Als für uns letzten Programmpunkt lauschen wir der dänischen Poetin Fine Gråbøl, die vor und mit dem Frederiksborg Drengekor, dem Knabenchor von Frederiksborg, einen Text zum Thema »Vorpubertäre Jungensopranstimmen« vorliest.

Ich merke, dass das erlebte Festival im Nachhinein viel positiver war als da und dort. Wie angenehm, wenn das Gehirn das Positive speichert und das Negative aussortiert. Ich finde mich langsam damit ab, dass ich nicht alle Veranstaltungen wahrnehmen kann, dass weniger mehr ist und dass das Aufsaugen dieser einzigartigen Atmosphäre, das Beobachten der vielen so unterschiedlichen Menschen viel Energie gibt.

Mich nervt das viele Schlangestehen: Für Platzkarten im Konzertsaal, für Kaffee, Eis, Bier, Toilettenbesuche und mehr. Mich fasziniert, wie drängelfrei mit stoischer Ruhe gewartet wird. Und wirklich jede/r stellt sich hinten an.

Auf dem Weg hinaus begegnen wir Maria Green, eine amerikanische Autorin, die ich neulich bei einem Autorinnentreffen kennengelernt habe. Sie ist beseelt von diesem schönen Tag, hat nur eine Veranstaltung erlebt, ansonsten Menschenstudien betrieben.

Meine IT-Expertin ist überhaupt nicht enttäuscht. Sie hatte ja auch keine Vergleichsmöglichkeiten mit früheren Louisiana-Festivals. Dankbar stellt sie fest: »Du hast mich total abschalten und meinen Job vergessen lassen.«

Also doch wieder ein Spa-Effekt in Louisiana?!

Barbara Fellgiebel
Fotos von Barbara Fellgiebel und Elena Ledeneva

Barbara Fellgiebel ist langjährige Buchmessen- und Literaturfestival-Beobachterin. Sie verweigert sich nach wie vor erfolgreich den sozialen Medien, freut sich aber über Ihre Reaktionen hier unter diesem Beitrag als Kommentar.

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